Ein Muss für Pioniere: Polaritäten einbeziehen
Newsletter | November 2023
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Hin und wieder hören wir, dass unsere Newsletters manchmal sehr abstrakt seien und daher Interessenten und Kunden keinen Nutzen brächten. Ebenso bekommen wir Feedback von Leser*innen, die sagen: „Toll, wie tief Sie da einsteigen, ich kann davon gar nicht genug bekommen.“
Wir sind Fans solcher Gegensätze. Sie sind essentielle Bausteine unserer Arbeitsweise. Polarisierungen helfen dabei, das zu finden, worum es eigentlich geht. Dieses Dritte ist meist auf den ersten Blick nicht sichtbar. Es zu finden und als neue Sichtweise zu verwenden, hat eine erleichternde und oft sogar erlösende Wirkung.
Führen und Sich-führen-lassen braucht daher ein wohlwollendes Wahrnehmen von Gegensätzen und Widersprüchen. Die Spannung in einer Polarisierung sorgt für genau die Energie, die Lebendigkeit immer wieder lebendig macht.
Für Pioniere, die etwas Neues einführen wollen und dabei Gegenwind erleben, ist es ein Muss, für eine zusätzliche dritte Position (die niemals ein Kompromiss ist!) offen zu sein.
Wir wollen diese Zusammenhänge an einem Fall aus unserer Praxis verdeutlichen.
Der Fall: Führungskultur organisatorisch entwickeln
Eine Führungscrew von etwa 12 Personen hatte sich in einer Reihe von Team-Coachings systematisch weiterentwickelt und sich dabei auch als gutes Team erlebt. Die Tools, die wir für gutes Führen und Zusammenarbeiten einbrachten, hatten Resonanz bekommen und einiges bewegt.
Da wollte man dranbleiben und traf als erstes zwei Entscheidungen:
Der Führungsperson, die das Projekt pioniermäßig gestaltet und geführt hatte, übertrug man die Verantwortung für Organisationsentwicklung. Zweitens wurde beschlossen, das Team-Coaching auf die nächsten Führungsebenen auszudehnen. In einem niederschwelligen Format: alle sechs Wochen für zwei Stunden in Form eines Pitstops, den wir facilitierten. Es kommen die, die kommen wollen. Es kommen die Themen dran, die eingebracht werden. Und anschließenden gibt es eine Foto-Dokumentation und schriftliches Follow-up von uns für alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer.
Das Projekt startete und bekam Zuspruch. Die Meetings erlaubten vielen, die noch nie bei so etwas mitgemacht hatten, sich als eigenständiges und respektiertes Mitglied der Runde zu fühlen.
Führungskultur im Aufwind
Die Leiterin Organisationsentwicklung führte das Pitstop-Projekt verlässlich, begeistert und mit leichter Hand.
So konnte sich eine neue Qualität entwickeln: Die Teilnehmer*innen erlebten, dass ihr Führen nicht nur „technische“ Lösungen brauchte. Sondern dass auch ihr jeweils individueller Stil, mit Sensibilität, Emotionen und Intuition umzugehen, ein essentieller Baustein war.
Die Führungskultur machte einen Sprung.
Einen besonderen Moment gab es zum Beispiel, als ein „alter Hase“ aufgewühlt von einer kritischen Situation erzählte, die er am Vortag erlebt hatte. Die Kolleginnen und Kollegen gaben ihm einen sicheren Raum, in dem er sein Erlebnis erzählend nachklingen ließ. Sie unterstützten ihn dabei zu erkunden, was am Vortag in der Tiefe passiert war. Jetzt konnte er darin Signale entdecken, die auf Veränderung und Wachstum seiner Führungsqualitäten deuteten. Sofort zog er daraus Schlüsse für sein praktisches Handeln.
Führungskultur in der Flaute?
So ist nach einem Jahr für die Leiterin OE völlig klar: Wir machen weiter!
Dann aber gibt es plötzlich irritierende Signale: Überraschend und mehrfach hintereinander, wie von oben gelenkt, scheint anderes im Kalender die Macht zu übernehmen, so dass einige der sorgfältig abgestimmten Pitstop-Termine nicht zustande kommen. Als nächstes versiegt, wie bei einer austrocknenden Quelle, der Strom der Anmeldungen für weitere Termine.
Was ist da los?
Die Leiterin OE fühlt sich plötzlich ziemlich allein mit dem Projekt, und eine Menge Fragen kommen ihr in den Sinn: War sie zu enthusiastisch in ihrer Mission? Hat das Format an Attraktivität und Lebendigkeit verloren? War alles nur eine Illusion? Gab es die vielen guten Momente gar nicht wirklich? Ist am Ende das, was sie Führungskultur nennt, im „realen“ Leben und Arbeiten eher wertlos? Behalten dann diejenigen recht, die behaupten, „day-to-day business eats culture for breakfast„?
Polaritäten würdigen
Die Leiterin OE spürt, dass es jetzt wirklich auf sie ankommt.
Sie führt eine Reihe von Gesprächen, in denen sie vor allem gut zuhört.
Und ihr wird klar: Operativ Mitarbeitende erleben eine völlig andere Realität als diejenigen, die hauptberuflich an der Führungskultur arbeiten.
Sie spürt eine Polarisierung zwischen operativem Geschäft auf der einen Seite und Kulturentwicklung auf der anderen. Beide scheinen gegeneinander um die knappe Ressource Zeit zu kämpfen. Das Alltagsgeschäft will Taktung und ungehinderte Abläufe. Führungskultur dagegen fordert freien Raum und Offenheit für jeden Impuls, der sich meldet. Auch im Fall von Hindernissen.
So betrachtet, schienen die Pitstops in einer Art Parallelwelt zum operativen Alltag stattzufinden – in dem Dinge wie Empfindsamkeit, Geduld, Miteinander und Lernbereitschaft als eher störend empfunden wurden.
Love Them All?! – etwas Drittes mitspielen lassen
„Parallelwelt“ heißt nicht, dass die eine Welt besser wäre als die andere.
Auch nicht, dass man sich für die eine und gegen die andere entscheiden müsste.
Nein, beide brauchen Aufmerksamkeit.
Um mit Polarisierungen klarzukommen, muss etwas Drittes her. Wenn es gelingt, das im Feld zu finden und zu beleben, öffnet sich ein Raum, in dem man mit den Polaritäten anders umgehen kann. Das Dritte bringt etwas Neues ins Spiel.
Im vorliegenden Fall führt der Wettbewerbsdruck um knappe Zeit auf die Spur zum Dritten. Zu einer zusätzlichen Position im Feld, die mit Zeit und Druck, aber auch mit Zeitlosigkeit und geschmeidigem Agieren zu tun hat. Zu einer Position, aus deren Sicht das Alltagsgeschäft genauso ok ist wie die Projekte für Führungskultur.
Diese Position öffnet den Raum, indem sie zeitlose Sicherheit und spielerische Souveränität ausstrahlt. Da gibt es etwas Erfrischendes, so etwas wie: “ ich habe euch alle gern“.
In der Praxis gar nicht so kompliziert
Als der Leiterin Organisationsentwicklung klar wurde, was in ihrem Feld die dritte Position ausmacht, erkannte sie sofort: „Das ist genau die Aufgabe, die ich für mein Team und mich sehe. Wir müssen die operative Alltagswelt genauso im Blick haben wie die Welt der Projekte zur Führungskultur. Wir müssen uns davon lösen, selbst auf der Seite der Führungs-kultur zu stehen“.
In der Folge zeichnete sie mit ihrer Crew ein akzentuiertes Bild der OE im Unternehmen:
- Es gibt immer das eine und das andere. Falls wir nur eins sehen, sollten wir zumindest wissen, dass etwas anderes auch im Feld ist.
- In Polarisierungen halten wir nach etwas Drittem Ausschau und lassen uns dabei auch von Unangenehmem und sogar Schmerzhaftem leiten.
- Wir als OE stehen für zeitlose Sicherheit und für Zuversicht. Für Erfrischendes und für Beweglichkeit. Für Unterschiedlichkeit und für das Umgehen mit chronischen Problemen. Für Entdecken & Ausprobieren.
P.S. Das Pitstop-Programm ging weiter, immer wieder neu angereichert. Und die OE-Crew mit ihrem neu ausgerichteten Selbstbild startete in einen unternehmens-spezifischen Weg von New Work.
Wegbeschreibung zu einem Quantensprung für Führungskultur: Polaritäten nutzen und eine zivilisierende dritte Position finden