Der Sündenbock: Endstation oder Startrampe?
Newsletter | Mai 2021
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In einem Projekt, in dem wir schon seit vielen Jahren arbeiten und viele Akteure auf vielen Hierarchieebenen kennen, erleben wir gerade etwas ganz Neues: Ein sehr verdienter Mitarbeiter wird, von ganz oben veranlasst, plötzlich „rausgenommen“.
Weil er, statt in einen Vorgang einzuwilligen, zu diesem Vorgang zuerst mal Fragen stellte.
Eine*n herauszugreifen und zum Sündenbock zu machen, ist ein klassisches Vorgehen. Es wird gern mal als Abschreckung, Bereinigung, Befriedung(?), Ablenkung, Bestrafung (nennt man dann Sanktionierung) benutzt.
Das Phänomen Sündenbock ist vermutlich ein essentielles Modul in der Baureihe Mensch. Es zum Verschwinden bringen zu wollen, wäre daher Zeitverschwendung. Ganz im Gegenteil, man sollte hellwach werden, wenn es auftaucht, denn es trägt einen hohen Suchtfaktor in sich.
Blitzschnell kann es zum Strukturelement einer Führungs- und Organisationskultur werden. Ohne Sündenbock geht dann gar nichts mehr.
Wir wollen mal genauer hinsehen …
Etappe 1: Alleingang eines Korinthenkackers?
Im obigen Fall war es so, dass der Mitarbeiter das Dokument, dem er seine Einwilligung geben sollte, nicht wie alle anderen Betroffenen schnell mal unterschrieb, sondern es „studierte“. Dabei fielen ihm einige Ungereimtheiten auf. Er stellte sich daher vor allem die Frage, ob er mit seiner Einwilligung nicht einem Führungsstil zustimmen würde, der auf Intransparenz und Willkür hinauslief.
Im Gegensatz zu seinen 6 Kolleg*innen im engeren und 70 im weiteren Kreis unterschrieb er daher nicht, sondern übersandte einige Fragen mit der Bitte um Antworten an seine Chefin. Zeit verging, und es passierte: nichts. Die Chefin ließ sich zwar die Fragen erläutern, aber beantworten wollte sie sie nicht. Das Ganze sei eine Angelegenheit der Konzernzentrale. Punkt.
Der Mitarbeiter stellte seine Fragen auch allen Kolleginnen und Kollegen zur Verfügung, die selbst nicht darauf gekommen waren, sondern eingewilligt hatten. Erste Reaktion: Schulterzucken.
Etappe 2: Es knallt
Dann hörten sie allerdings auf informellem Weg, dass der Kollege gerade die Mitteilung bekommen hatte, er sei aus der Organisation „herausgenommen“ worden. Das ging schnell. Ohne Vorankündigung, ohne jeden Dialog.
Jetzt zuckten sie zusammen, denn dieser Kollege war ihnen wichtig. Schon lange arbeiteten sie in allen wichtigen Angelegenheiten mit ihm zusammen. Immer war er hoch engagiert und packte an. Sein Wissen und seine Erfahrung hatten schon viele Lösungen möglich gemacht.
Sie zuckten auch zusammen, weil der Sinn und die Bedeutung ihrer gemeinsamen Arbeit plötzlich wie eine Illusion aussahen. Hatten sie bisher einfach nur Glück gehabt, dass die Zentrale nicht schon früher zugeschlagen hatte? Wo war die Sicherheit, die sie brauchten, um ihren Job mit all seinen Spannungen und Herausforderungen überhaupt machen zu können?
Und dann die Sorge: bei seiner Qualität und seinem Format – warum sollte sich der Kollege so behandeln lassen? Das Einfachste wäre doch für ihn, jetzt aus der Organisation auszuscheiden. Woanders würde man ihn mit Kusshand nehmen.
Etappe 3 : Entscheidung für ein WIR
Jede/r im Kollegenkreis, auch der „Sündenbock“, musste sich fragen: Bin ich dabei, wenn wir das Problem gemeinsam angehen? Und lohnt sich dieser Einsatz für eine Organisation, die mit verdienten Mitarbeiter*innen so umgeht? Für diese Leute in der Zentrale, die so weit weg sind, dass sie nicht mal wissen (wollen), was sie da anrichten? Die es im Zweifelsfall auch „nicht gewesen“ sind?
Glück im Unglück: Der Rausgesetzte ging nicht weg, sondern blieb, erhob Einspruch und begründete noch einmal deutlich seine Fragen. Die Kolleg*innen hielten sich gegenseitig im Boot und machten seine Fragen zu ihren eigenen. Zu allen sich bietenden Gelegenheiten traten sie offensiv als Team auf – gegenüber Vorgesetzten, in größeren Kollegenkreisen, vor Fachgremien im Unternehmen. Einen isolierten Sündenbock ließen sie nicht mehr zu.
Bald stellte sich heraus, dass der ursprüngliche Vorgang tatsächlich schwerwiegende Fehler enthielt und eigentlich nur ein Versuch war, ein anderes Versäumnis zu kaschieren. So war der Fragensteller eigentlich ein Geschenk für die Organisation, weil weitere Fehler vermieden werden konnten.
Was allerdings noch Reifezeit brauchte, war die entsprechende Veränderung in der Herangehensweise der Unternehmenszentrale: „Wenn ein Problem auftaucht, bringen wir als erstes den Kreis der Beteiligten in einen Dialog miteinander.“
Das Phänomen Sündenbock
Einen Schuldigen zu „ermitteln“ oder einfach zu bestimmen, gibt in schwierigen Situationen ein Gefühl von Sicherheit: Ich weiß, wer es war. Ich war es nicht.
Das Ausrufen eines Sündenbocks ersetzt Hilflosigkeit durch eine Struktur, die sich durch Bestätigung selbst verfestigt: „glasklare“ Begründungen führen zu „eindeutigen“ Beziehungslinien. Man fühlt sich zunehmend sicher, lehnt sich beruhigt zurück und wird zum Zaungast des Geschehens. Viele finden das attraktiv und schließen sich gern an. Dann ist niemand so allein wie der Sündenbock.
Häufige Formate des Phänomens im Alltag: Mobbing, Bloßstellen, zum Außenseiter stempeln … und Schluss! Punkt! Aus! Ruhe!
Die nun tatsächlich eintretende Ruhe müsste eigentlich beunruhigen.
Denn der Sündenbock-Ansatz blockiert Wichtiges und Heilsames:
- einen Weg gemeinsam gehen
- unterwegs etwas entdecken, das man bisher nicht sehen konnte
- gemeinsames Lernen
- die Erfahrung, nicht allein gelassen zu werden
- qualitativ wachsen und richtig gut werden
Organisationen, die attraktiv für Mitarbeiter*innen und Kunden sein wollen, achten am besten auf Strukturen, die keinen Sündenbock brauchen.
Falls doch einer auftaucht (Man merkt es daran, dass man beginnt, sich auf ihn einzuschießen), begegnet man gerade einem Alarmsignal für künstliche Blind- und Taubheit.
Wenn man das dann leugnet, ebnet man den Weg für ein chronisches Problem.