Aus dem Alltag eines Anstaltsbeirats im hessischen Justizvollzug
Interview | März 2022
Guido Kirchhoff von BETRIFFT Justiz im Dialog mit Franz Fendel von Fendel & Partner.
Seit wann Sie sie im Anstaltsbeirat und seit wann Vorsitzender?
Ich bin im September 2004 zum ersten Mal als frischberufener Beirat in der JVA Darmstadt angetreten und wurde damals sofort zum Vorsitzenden gewählt. Der Hintergrund für diese ungewöhnliche Wahl: von den 3 erfahrenen anwesenden Beiräten wollte es keiner machen, und von uns vier ahnunglosen Neuen war ich der einzige, der es wagen wollte.
Es war damals meine Angst vor Knast und vor diesem mir völlig unbekannten Gebiet des Justivollzuges. Heute ist das Motiv eher, dass ich durch mein Enagegement aktiv meine individuellen Möglichkeiten dem Gemeinwohl in einem definierten Rahmen zur Verfügung stelle und ein bisschen mithelfe, dass die Prinzipien, die ich mit Demokratie verbinde, lebendig angewendet werden. Lustigerweise hatte die IHK damals vier Kandidat*innen benannt, und die Stadt Darmstadt hat sie dann auch alle dem Hessischen Ministerium der Justiz zur Berufung vorgeschlagen. 2004 waren die damals Neuen alle jünger, sehr unternehmerisch und wirtschaftsnah orientiert. Diese Mischung hatte es bis dahin in einem Beirat noch nie gegeben. Und noch etwas zu meinem Engagement: Wahrscheinlich bin in durch meine ehrenamtliche Tätigkeit im Justizvollzug und meine Hochachtung für die Arbeit, die da gemacht wird, auch hauptberuflich sehr viel fähiger geworden, Menschen in Verwaltungen zu erreichen. Früher wäre ich dazu nicht in der Lage gewesen. Sie sehen: Dieses Ehrenamt gibt die Möglichkeit, immer wieder neu zu lernen und selber wirksam zu sein.
Ich halte das Organ des Beirats in einer Justizvollzugsanstalt für eine geniale Idee und den besten praktischen Ansatz, um in einem Bereich, der auf Sicherheit und Strafe ausgerichtet ist, ein balancierendes Moment lebendig zu halten. Der Beirat passt so wenig in das klassische Denken und das Tagesgeschäft des Justizvollzuges und des Justizministeriums, dass alle Akteure und Gesprächspartner eigentlich immer ein bisschen „anhalten“ und „innerhalten“ müssten, wenn der Beirat ins Spiel kommt. Ein lebendiger Beirat, der ja eben nicht Teil der oft fast auf „Autopilot“ laufenden Hierachrie ist, kann mit Fragen und Impulsen bewegen. Wenn er es schaftt, dass ihm zugehört wird und nicht nur standardisierte Alibi-Antworten erfolgen, ist schon viel erreicht. Eigentlich sollte der Beirat ja laut Gesetz und Verwaltungsvorschrift die Anstaltsleitung der JVA beraten. Das mit dem Beraten ist vielleicht unglücklich formuliert: Was soll man sich beraten lassen, wenn man „alles im Griff“ hat und Weiterentwicklung als eher störend empfindet. Interessanterweise sind Gesetz und Verwaltungsvorschrift hier in Hessen ziemlich präzise und machen Vorgaben, wie die Akteure
Trotzdem: Wenn ein Anstaltsbeirat wach und engagiert arbeitet und in Kauf nimmt, dass er dabei eher abwartend agierende „Partner“ hat, dann kann er einiges im Justizvollzug mitbewegen und ausbalancieren. Entscheidend sind dabei der eigene Arbeitsstil und die Präsenz im Feld.
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* Aktualisierung: im Oktober 2022 ist der Bericht zum Jahr 2021 mit der Aussage beantwortet worden, dass sich „das Ministerium mit der Anstaltsleitung zu einzelnen Punkten ins Benehmen gesetzt habe.“
Was für Leute sind konkret im Anstaltsbeirat, aus welchem Berufsfeldern, wie viele Männer und wie viele Frauen?
Im Darmstädter Anstaltsbeirat sind zur Zeit 2 Frauen und 5 Männer tätig. Die Mitglieder kommen aus der Rechtspflege, Sozialarbeit, Industrieberatung, Straffälligenarbeit, kommunaler Arbeit, Kommunalpolitik und Unternehmensberatung. Also eine bunte Mischung von Berufsfeldern und eine ebenso bunte Mischung von Organisationserfahrung.
Ich habe im Zeitablauf gelernt, dass die besondere Kraft des Beirats die Vielfältigkeit und Inhomogenität seiner Besetzung ist. Es ist in meinem Verständnis erste Aufgabe einer/s Vorsitzende*n, dass das Team kohäsiv zusammen ist und arbeitet. Am besten läuft das, wenn jedes Mitgleid das Gefühl hat, „ich gehöre dazu“ und „so, wie ich die Dinge sehe, ist es wertvoll für das Team“. Dieses Agieren in einem Team, das aus seiner Diversität lebt, ist der Kultur des Justizvollzuges eher fremd und wird zunächst auch von vielen eher als Schwäche eingeordnet.
Ich kenne aber auch Beiräte und Vorsitzende, für die dieses Denken in Team und Miteinander keine Priorität hat. Das führt dort oft dazu, dass Vorsitzende eine Solo-Rolle praktizieren und im Zweifel eher allein sind.
Für mich wäre das sehr schwer zu ertragen, weil es doch immer wieder sehr subtile und krasse Angelegenheiten im Leben einer JVA gibt, in denen man eben nicht wegsehen oder weghören sollte. Wenn ich mir vorstelle, ich wäre damit allein, dann hätte ich nicht die Kraft, „am Ball“ zu bleiben. Man sollte nie vergessen, dass eine Haftanstalt ein Ort ist, an dem auch der Kern der Straftat und die Herausforderung des Umgangs mit sehr unterschiedlichen Menschen immer präsent ist. Und diejenigen, die wirklich lebenslänglich in einer JVA sind, das sind die Mitarbeiter*innen. Sie machen einen tollen Job, und es ist wichtig, dass sie auch mental und seelisch beweglich und gesund bleiben. Ich habe im persönlichen Kontakt immer wieder den Eindruck, dass Bedienstete gerade zum letzten Punkt den Respekt und die Unterstützung durch den Beirat schätzen.
Mir sagte einmal ein erfahrener Anstaltsleiter „Sie dürfen nie vergessen, dass das Vollzugssystem eigentlich aus einem militärischen System heraus entwickelt worden ist.“ Wenn ich diese Sichtweise in der Gegenwart von Führungspersonen weitergeben würde, würde mich vermutlich der Sturm der Entrüstung wegfegen. Man würde mir vorhalten, wieviele Psycholog*innen und Seelsorger*innen im Justizvollzug arbeiten und wie gut die AVDs und Sozialarbeiter*innen ausgebildet seien. Das stimmt natürlich. Aber es stimmt auch, dass man in der Organisation seine persönliche Meinung im Zweifelsfall für sich oder im informellen Kreis der Vertrauten behält, wenn man keinen Ärger will. Als Außenstehender kann man schnell erkennen, dass Meetings lieber im Verkündungs- und Mitteilungsmodus abgehalten werden und wenig Sinn für das gemeinsame Entwickeln und Debriefen besteht. Das zu erleben tut mir teilweise richtig weh.
Aus meiner Sicht muss die Hierarchie sein. Man braucht die klaren Strukturen und die Orientierung. Die Frage ist immer, wie man damit umgeht und was man daraus macht. Aus dem Schatten heraus wird das Geschehen im Justizvollzug von der Regel dominiert, die sagt „ich darf keinen Fehler machen“. Daraus folgt dann sofort, wenn ein Fehler eingetreten ist, „ich war es nicht.“ Und dann als nächstes: „Wenn etwas schiefläuft, müssen wir die/den Schuldigen finden & sanktionieren und alles ist wieder gut“.
An dieser Stelle könnte man auch in einer Hierarchie-Organisation einen anderen Stil pflegen. Wenn etwas schiefgeht, könnte als erstes die Frage kommen: „Ist jemand zu Schaden gekommen und wie können wir sie/ihn unterstützen?“ Und dann: „Was können wir und vielleicht auch andere Beteiligte aus dem Fehler lernen? Was haben wir bisher nicht gesehen? Was von dem, was wir eigentlich gut können, haben wir nicht in Betrieb? Oder wo übertreiben wir vielleicht?“
Können sich die Gefangenen an den Anstandsbeirat wenden, und setzt sich der Anstaltsbeirat dann für sie ein?
Die Inhaftierten wenden sich entweder durch schriftliche Anliegen an den Beirat oder aber spontan, wenn wir zu den Sprechstunden auf den Häusern sind. Wir kontaktieren danach die verantwortlichen Gesprächspartner*innen in der JVA und klären mit Ihnen, ob und welche sich weiterführende Aktivitäten ergeben. Viele Punkte erledigen sich dabei von selbst. Einfach, weil eine Atmosphäre entsteht, in der wieder Dialog gepflegt wird. Aber oft gibt es auch weiteren Gesprächsbedarf. Wir beziehen natürlich auch die Anstaltleitung ein, wenn es um übergordnete Dinge geht.
Wird der Anstandsbeirat in die Planung zum Beispiel von Arbeitsgelegenheiten, Unterrichtseinheiten und so weiter in der JVA eingebunden?
Es gibt einen Katalog von besonderen Fällen, in denen die Anstaltsleitung proaktiv informieren „muss“. Ansonsten ist es so, dass die Mitglieder Informationen aus dem Alltag der JVA mitbekommen und beginnen, Fragen zu stellen. Wenn die Atmosphäre gut ist, entwickelt sich dann ein Dialog.
Insbesondere: welche Verbesserungsideen hätten Sie gerade im Hinblick auf die Zusammenarbeit mit der JVA-Leitung?
Ich habe bisher fünf Anstaltsleitungen erlebt. Führungspersonen haben sehr unterschiedliche Stile, mit denen sie sich wohlfühlen. Die Anstaltsleiter*innen heute haben eine juristische Ausbildung, und im Ministerium haben auch die meisten einen mehr oder weniger juristischen Hintergrund. Das bedeutet, man arbeitet mit Führungspersonen, die sich im Zweifel auf juristisches oder verwaltungsjuristisches Denken zurückziehen. Orientierung auf Führungskultur, auf Transparenz und kontinuierlich-fairen Dialog gehören nicht unbedingt zum habituellen Standard. Ein kleines Beispiel: Vor einigen Jahren ist der katholische Seelsorger, der 10 Jahre lang einen tollen Job in der JVA gemacht hat, ganz plötzlich und eigentlich auch tragisch gestorben. Bei der Auferstehungsmesse und der Beerdigung haben alle möglichen Institutionen, für die er im Laufe seiner Berufszeit tätig war, ihren Respekt und ihre Trauer zum Ausdruck gebracht. Vom aktuellen Arbeitgeber, unserer JVA, gab es außer einem Kranz keinen Beitrag, und keine der Führungspersonen war anwesend. Ich habe mich damals als Ehrenamtlicher für „meine“ JVA und deren „Weg-Gucken“ geschämt. Es gibt Organisationen, zu deren Kultur ausdrücklich auch der Umgang mit Tod und Sterben gehört. Diese Organisationen sind letztlich robuster und geben den beteiligten Menschen ein Gefühl von Miteinander. Egal, wieviele Sterne sie auf der Schulter tragen.
Wir erleben auch immer wieder, dass jüngere Mitarbeiter*innen mit Engagement und Begeisterung ihren Job in der JVA beginnen, und nach einiger Zeit ist das Feuer verloschen. Oft verlassen sie dann auch die Organisation wieder. Leider, leider wirkt dieses Muster nicht wie ein Weckruf. Wenn man es anspricht und anregt, die Führungskultur und eigene Dialogfähigkeit in den Fokus zu nehmen, dann lauten die Argumente: der/die Mitarbeiter*in habe sowieso immer weg gewollt und woanders ein besser bezahltes Angebot erhalten.
Was mich auch etwas irritiert, ist das Phänomen, dass in der Männer-JVA in Darmstadt alle Führungspositionen von Frauen besetzt sind. Ich finde sehr gut und wichtig, dass der weibliche Faktor stark und klar in der JVA wirkt. In diesem Bereich ist der Justizvollzug anderen Organisationen weit voraus. Aber in einer Männergesellschaft wie sie in einer Männer-JVA nun einmal vorliegt, gibt es auch Punkte, bei denen der Gesprächspartner glaubwürdiger ist, wenn er selbst auch ein Mann ist. Inhaftierte haben dafür ein sehr feines Gespür, und so bauen sich da Schattenfronten auf, die sehr subtil wirksam sind. Wenn man Verantwortliche im Ministerium zu diesem Punkt anspricht, ziehen sie sich gemäß ihrer jusitischen Ausrichtung auf den Nicht Diskriminisierungsgrundsatz zurück. Eigentlich müssten sie aber daran arbeiten, auch für höhere Karrierelaufbahnen den Vollzug für Männer attraktiv zu halten.
Sie haben ja als Anstaltsbeirat die Möglichkeit, über Hierarchiegrenzen hinweg ohne Einhaltung von Dienstwegen Gespräche zu führen. Wie ist aus Ihrer Sicht die Justiz bis hin zum Justizministerium in den Bereichen Führung und Kommunikation aufgestellt?
Der Dialog mit den Ansprechpartner*innen und Führugspersonen im Justizministerium ist sehr wichtig. Ich finde gut, dass das Ministerium sich bemüht, zumindest ein-, zweimal im Jahr einen gemeinsamen Termin mit den Vorsitzenden der Anstaltsbeiräte zu organisieren. Allerdings gibt es eine starke Tendenz, dass diese Veranstaltungen zu Alibi-Events werden. Für eine kurze Zeit hatten wir mal so etwas wie Weiterbildungs- und Erfahrungsaustauschtermine. Dazu gibt es seit geraumer Zeit gar nichts mehr, und das Ministerium reagiert auch nicht auf Vorschläge. Natürlich sind die Vorstellungen in einzelnen Beiräten sehr unterschiedlich, aber genau da würde ich als Ministerium ansetzen. Wenn ich das Ministerium wäre, wünschte ich mir wache, bewegliche, kommunikative Beiräte und würde alles tun, um sie weiterzubilden und auch von ihnen zu lernen. Denn über einen guten Beirat kann man ähnlich wie über einen wohlwollenden Betriebsrat viel für Atmosphäre und Dialogfähigkeit tun. Das hätte auch zur Folge, dass in den Kommunen die Rekrutierung von Menschen für den Beirat eine ganz andere Bedeutung bekäme. Heute ist es eher so, dass alle so tun, als ob Beiräte sehr wichtig wären und man ihnen dankbar wäre. Wenn es dann um konkrete Entscheidungen und Schritte geht, begegnet man eher
Das ist eine Geschichte, die im September 2020 begann, als man im Ministerium bemerkt hatte, dass man die Beiräte nicht der gesetzlich vorgegebenen Zuverlässigkeitsüberprüfung unterzogen hatte. „Schnell“ sollte das „repariert“ werden, und man legte über die Anstaltsleitungen gemäß den Vorgaben der Datenschutzbestimmungen den Beiräten ein Dokument vor, in dem sie ihre Zustimmung zur Zuverlässigkeitsüberprüfung geben sollten. Wir Beiräte gingen natürlich davon aus, dass wir sowieso bei Eintritt in das Amt bereits überrüft worden waren und auch laufend sicherheitsüberprüft würden. So unterschrieben fast alle ohne Federlesen dieses Dokument. Eines unserer Teammitglieder machte sich allerdings vor dem Unterschreiben die Mühe, das Dokument zu studieren, und da fielen ihm einige Ungereimtheiten auf. Es bat schließlich schriftlich darum, dass diese Punkte mit ihm geklärt würden. Mehrere Monate passierte nichts. Es wurde keinerlei Dialog zu den gestellten Fragen aufgenommen. Das war interessant, weil seine Fragen eigentlich auf eine unfertige Qualität des vorgelegten Dokuments hinwiesen. Es gab dann einmal ein Telefonat mit der Anstaltsleitung, das aber auch nicht dazu diente, die aufgeworfenen Fragen zu beantworten. Ohne weiteren Dialog wurde der Kollege dann vom Ministerium „abberufen“, weil er der Zuverlässigkeitsüberprüfung nicht zugestimmt hätte. Auch zu diesem Zeitpunkt spielten die gestellten Fragen keine Rolle. Die Angelegenheit hat unseren Beirat über Monate extrem beschäftigt: am Anfang in der Absicht, mit den bekannten Ansprechpartnern im Ministerium eine schnelle „Reparatur eines Missverständnisses“ zu erreichen. Denn es war ja von vornherein klar, dass der Kollege nicht die Zuverlässigkeitsprüfung als solche ablehnte, sondern auf Qualitätsmängel im Dokument hinwies. Als die Bemühungen zur „schnellen Reparatur“ fruchtlos blieben, wendeten wir uns an die Ministerin bzw. den Staatssekretär. Nach vielen vielen Einzelschritten unter Einbeziehung der Stadt Darmstadt und des Vorsitzenden des Unterausschuss Justizvollzug im hessischen Landtag gelang es, dass der Staatssekretär alle Beteiligten an einen Tisch einlud und dann doch noch einen Weg fand, dass das Beiratsmitglied wieder als Beiratsmitglied berufen war. Leise und ohne jeden Dialog war inwischen auch das zu unterschreibende Zustimmungsdokument von den Mängeln befreit worden, die moniert worden waren.
Mir persönlich hat dieser Vorfall, bei dem allein der Beirat die komplette Arbeitslast getragen hat, gezeigt, dass Dialogfähigkeit ein sehr wertvolles Gut ist, das im Justizvollzug nicht wirklich ein Zuhause hat. Ich war erschreckt und bin es heute noch, dass so viele Beteiligte bis heute nicht sehen, dass es nicht um eine Verweigerung der Zuverlässigkeitsüberprüfung ging (= typischer Rückzug auf juristische Sichtweise), sondern darum, dass ein Zustimmungsdokument in nicht ausreichender Qualität und ohne begleitende Kommunikation in Umlauf gebracht worden war (= keine Dialogfähigkeit und lebendige Fehlerkultur).
Im Nachhinein schockiert hat mich die Erfahrung, dass es auch nach der erfolgten Klärung und Erledigung unmöglich war, in der Anstalt ein Debriefing-Gespräch zu führen. Debriefing im Sinne von: Was können wir in Zukunft anders machen, damit eine solche Krisensituation nicht auftreten muss. Bei allem Ärger und aller Aufregung: Ich finde es wichtig, dass man zusammen lernen kann.
Sie sind Fachmann für Führen und Zusammenarbeiten. Was könnte man in der Justiz generell oder im Einzelnen in dieser Hinsicht verbessern?
Es muss an Dialogfähigkeit, Lernen-Wollen und Führungskultur gearbeitet werden. Juristisches Denken sollte nur dann zum Zuge kommen, wenn es wirklich um juristische Entscheidungen geht. In den allermeisten Fällen geht es aber darum, wie man mit bestimmten Situationen und Gegebenheiten umgeht und welche gemeinsamen Werte und Prinzipien man dazu zur Verfügung hat. Ich finde, dass es insbesondere für Wohlwollen und für bewusstes und verantwortliches Führen immer Raum geben müsste. Auch Kreativität muss immer mit dabei sein – und zwar im Sinne von „vielleicht können wir es auch ein bisschen anders machen als bisher“ oder „worum geht es hier wirklich?“
Fortbildung für Richterinnen und Richter im Bereich Führen und Zusammenarbeiten wird kaum von der Justizverwaltung angeboten. Haben Sie Tipps, wie sich die Kolleginnen und Kollegen da selbst helfen könnten?
Ich empfehle das, woran wir auch mit Coaching-Klient*innen und in Leadership-Weiterbildungen arbeiten: Führen und Zusammenarbeiten bewusst als besondere Aufgabe und kontinuierliche eigene Herausforderung zu behandeln. Immer wieder. Das beginnt mit innerem Management und Selbstreflexion. Dann kommt das sehr bewusste und wohlwollende Gestalten der Beziehungen zu anderen Beteiligten. Das hat viel mit Resonanz und dem Bewusstwerden der eigenen Macht und der persönlichen Wirkung zu tun. Schließlich geht es um das Gespür dafür, dass man immer auch etwas Dynamisch-Komplexem begegnet, das wir Feldeffekte nennen. Die kann man nicht bestimmen oder kontrollieren, sondern muss mit ihnen arbeiten und an der richtigen Stelle Impulse für Lösungen und Weiterentwicklungen geben. Das alles ergänzt und belebt die fachliche Professionalität.
Was ich also empfehlen kann, sind Coaching und Leadership-Weiterbildung.
Wenn es darüber hinaus noch Energie und Kraft gibt, dann würde ich eine Arbeit zum WIR in der eigenen Organisationseinheit empfehlen. Dabei gibt es viel zu entdecken, und es lassen sich erstaunliche Effekte erzielen. Zum Beispiel den, dass es den Beteiligten richtig Spaß machen kann. Und Menschen, denen es von innen heraus gut geht, sind für andere anziehend und überzeugend.